Der zahnlose Tiger: Wie Europa sein KI-Gesetz entkernt
Europa feierte den AI Act als Vorreiter-Gesetz. Bevor er wirkt, wird er entkernt. Über den Digital Omnibus, Big Tech Lobbying und Regulierung als Simulation.
Ende einer Illusion
Bevor der AI Act wirkt, wird er zerlegt.
Im August 2024 feierte Europa sich selbst. Das weltweit erste umfassende Gesetz zur Regulierung Künstlicher Intelligenz trat in Kraft. Ein historischer Moment, so die Erzählung. Europa als Vorreiter. Während die USA deregulierten und China seine eigenen Regeln schrieb, setzte die EU auf Grundrechte, Transparenz und demokratische Kontrolle. Das war das Versprechen.
Sechzehn Monate später liegt ein Gesetzespaket auf dem Tisch, das dieses Versprechen zerlegt. Der "Digital Omnibus", am 19. November 2025 von der Europäischen Kommission vorgestellt, verschiebt zentrale Schutzvorschriften, weicht Betroffenenrechte auf und öffnet Hintertüren für genau jene Konzerne, die das Gesetz regulieren sollte.
Versprechen
Der AI Act war ambitioniert. Ein risikobasierter Ansatz: Je gefährlicher ein KI-System, desto strenger die Auflagen. Verbote für Social Scoring, für manipulative Systeme, für biometrische Massenüberwachung. Transparenzpflichten für generative KI. Dokumentation, Audits, Haftung. Bußgelder von bis zu 35 Millionen Euro oder sieben Prozent des weltweiten Jahresumsatzes. Das Gesetz sollte zeigen, dass Regulierung und Innovation sich nicht ausschließen.
Die Umsetzung war gestaffelt: Seit Februar 2025 gelten Verbote für inakzeptable KI-Praktiken und die Pflicht zur KI-Kompetenz in Unternehmen, seit August 2025 greifen Regeln für General Purpose AI – also große Sprachmodelle wie GPT oder Claude. Ab August 2026 sollten die Vorschriften für Hochrisiko-Systeme folgen: KI, die über Kreditvergaben entscheidet, Bewerbungen sortiert, Prüfungen bewertet oder Menschen in der Justiz beurteilt.
Sollten.
Demontage
Der Digital Omnibus verschiebt die Anwendung der Hochrisiko-Regeln um mindestens sechzehn Monate, auf Dezember 2027. Die Begründung: Die nötigen technischen Standards seien noch nicht fertig. Die Industrie habe Bedenken geäußert. Man wolle "Rechtssicherheit" schaffen.
Doch die Änderungen gehen weit über Fristverlängerungen hinaus. Der Omnibus zentralisiert Aufsichtsbefugnisse beim AI Office der Kommission und schwächt damit nationale Behörden. Er schafft Ausnahmen für kleine und mittlere Unternehmen, aber auch für "Small Mid-Caps" mit bis zu 500 Mitarbeiter:innen. Er erlaubt das Training von KI-Systemen mit personenbezogenen Daten auf Basis "berechtigter Interessen" der Unternehmen, ohne explizite Einwilligung der Betroffenen. Die Definition personenbezogener Daten selbst soll eingeschränkt werden.
Was heißt das konkret? Ob du erfährst, dass eine KI deine Bewerbung aussortiert hat, entscheidet sich ab 2027 – ein Jahr später als geplant. Ob du verstehst, warum ein Algorithmus deinen Kreditantrag abgelehnt hat, ebenso. Und wenn ein Unternehmen deine Daten zum Training nutzt, reicht künftig ein "berechtigtes Interesse" statt deiner Zustimmung.
Die Grundrechtsorganisation European Digital Rights nennt es einen "vollständigen Verrat an Europas Versprechen". Der Omnibus zerlege den AI Act und untergrabe seine Schutzmechanismen. Wer KI-Systeme herstelle oder verkaufe, könne sich künftig selbst von grundlegenden Regeln befreien. Ein "carte blanche" für risikoreiche Technologien.
Die europäische Verbraucherschutzorganisation BEUC formuliert es nüchterner: Den Verbraucher:innen sei Vereinfachung versprochen worden. Was sie erhalten, ist ein Gesetz, das vor allem eines leistet: die Industrie zu entlasten.
Wer Druck macht
Die Frage, wer von der Verwässerung profitiert, ist nicht schwer zu beantworten. Big Tech Lobbyverbände begrüßen die Änderungen, fordern aber "kühnere" Schritte. Der Branchenverband Bitkom verlangt "mehr Mut, Bürokratie und Überregulierung drastisch zu reduzieren". Gleichzeitig haben Deutschland und Frankreich sich öffentlich für weitgehende Deregulierung eingesetzt. Und die US-Regierung hat den Druck auf die EU erhöht, europäische Standards bei Datenschutz und Verbraucherrechten zu senken.
Das Muster ist bekannt. Wie ich in meiner Analyse zu Dark Tech gezeigt habe, machen Plattformen Macht unsichtbar. Sie operieren in Grauzonen, verschieben Verantwortung, externalisieren Kosten. Der AI Act war ein Versuch, diese Macht sichtbar und kontrollierbar zu machen. Der Digital Omnibus ist die Antwort der Macht auf diesen Versuch.
Österreich: Strukturen ohne Steuerung
In Österreich wurde Anfang 2024 die KI-Servicestelle bei der RTR eingerichtet. Eine zentrale Anlaufstelle für Fragen zu KI und Compliance. Das Bundeskanzleramt hat einen KI-Umsetzungsplan vorgestellt. Auf dem Papier sieht das nach Vorbereitung aus.
Der Rechnungshof sieht es anders. In einem Bericht von 2025 kritisiert er, dass zwar viele KI-Gremien eingerichtet wurden, eine Gesamtsteuerung auf Bundesebene aber fehle. Es bestehe die Gefahr von Doppelgleisigkeiten und uneinheitlichen Risikobeurteilungen. Die organisatorischen Strukturen seien komplex, die Zuständigkeiten nicht klar abgegrenzt.
Hinzu kommt: 73 Prozent der österreichischen Bevölkerung haben laut einer Erhebung im Auftrag der Bundesregierung wenig bis gar kein Wissen über KI. 46 Prozent sehen die zunehmende Nutzung eher negativ.
Österreich hat Strukturen. Was fehlt, ist Steuerung. Und eine Bevölkerung, die weiß, worum es geht.
Regulierung als Simulation
Was bleibt von Europas KI-Versprechen? Ein Gesetz, das verschoben wird, bevor es wirkt. Ausnahmen, die zur Regel werden. Aufsichtsbehörden ohne Ressourcen. Unternehmen, die auf "Vereinfachung" drängen und Entkernung bekommen.
Der AI Act war nie perfekt. Er war ein Kompromiss, ausgehandelt zwischen Industrie, Zivilgesellschaft und Politik. Aber er war ein Anfang. Eine Markierung, dass Europa einen anderen Weg gehen will als die USA oder China. Diese Markierung wird gerade ausradiert.
Europa diskutiert über die Härte von Regeln, während die Technologie längst Tatsachen schafft. Während Deepfakes demokratische Prozesse unterwandern und KI-Systeme über Kredite, Jobs und Grundrechte entscheiden, debattiert Brüssel, ob Compliance nicht zu teuer werde.
Das Europäische Parlament könnte den Omnibus noch blockieren. Zivilgesellschaftliche Organisationen mobilisieren. Aber die Frist läuft, und der Druck ist enorm.
Vielleicht ist der AI Act am Ende genau das, was Baudrillard ein Simulakrum nannte: Ein Zeichen, das auf nichts mehr verweist. Ein Gesetz, das Regulierung simuliert, ohne sie zu vollziehen. Europa spielt Vorreiter, während die Macht woanders liegt.
Das ist keine Vereinfachung. Das ist Kapitulation mit Fußnoten.
Marjan Milosavljević, 6.12.2025